Das Ende politischer Stabilität in Europa
Ein System im Umbruch...
An der Schwelle einer neuen Weltordnung erleben wir auch in Europa einen tiefgreifenden Change. Die Ära der Großparteien und klaren politischen Verhältnisse in den Mitgliedsstaaten der EU erscheint vorbei. Weder die Sozialdemokraten noch die konservativen Volksparteien sind die treibenden Kräfte in Europa. Wo früher eine Mehrheit jenseits der 15 Regierungschefs einer politischen Familie alternierend den Ton im Europäischen Rat (und infolge in der EU-Kommission) angegeben hat, regiert nun Volatilität und Regierungsbündnisse mit drei oder gar mehr Parteien (siehe aktuelles Beispiel Italien) werden zur Norm.
16 EU-Mitgliedstaaten werden mittlerweile von Koalitionen mit drei oder mehr Parteien regiert. In der Regel sind es ehemalige Großparteien, die sich mithilfe kleinerer Splitterparteien die fragile Mehrheit sichern. Hinzu kommen 5 Staaten, in denen die Regierung über keine Mehrheit im Parlament verfügt (Frankreich als das prominenteste Beispiel). Zudem wurden in lediglich 6 der 27 Mitgliedsstaaten die letzten beiden Legislaturperioden von amtierenden Regierungskabinetten zur Gänze vollendet.
Stabile Regierungskonstellationen traditioneller Mehrheiten gehören demnach vermehrt der Vergangenheit an – während Dänemark, Irland oder Polen drei Kabinette verzeichneten, waren in diversen EU-Staaten sogar 4 und in Bulgarien und Österreich gar 6 verschiedene Kabinette im Amt. Rumänien und Italien bilden mit 7 Kabinetten die unrühmliche Spitze.
…und seine Folgen
Diese Fragmentierung und Volatilität haben dramatische Folgen:
- Es besteht kein einheitliches Bild mehr auf die großen Fragen, die gelöst gehören: sei es die Zukunft Europas, der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine oder die geopolitische Rolle der EU im Wettkampf gegen andere Systeme
- Die deutsch-französische Achse ist kein Motor mehr für große europäische Themen. Auch sonstige Bündnisse wie „Visegrad“ oder die „Frugalen Vier“ sind am Top-Level (derzeit) erlahmt
- (Kleine) Parteien an den Rändern des politischen Spektrums fungieren als Mehrheitsbeschaffer für ehemalige Großparteien. Diese Form der Koalition sorgt für Dauerwahlkampf und Volatilität. Die Versuchung, populistische Antworten auf komplexe Fragen zu geben, wird gezwungener Maßen größer.
Nationale Regierungen sind durch die Mehrheitsbeschaffer, welches oftmals kleine Parteien an den Rändern des demokratischen Spektrums sind, erpressbar und in dauernder Gefahr des Regierungssturzes. Dadurch befinden wir uns im Dauerwahlkampf und im ständigen Rotieren politischer Vertreter. Dies bedingt, dass keine vertrauensvollen, belastbaren und langjährigen Beziehungen zwischen Politikern von unterschiedlichen EU-Staaten aufgebaut werden können. Dies wäre aber von fundamentaler Relevanz, um ein übereinstimmendes Bild zu bekommen und komplexe Entscheidungen treffen zu können.
Die kommenden zwei Jahre werden ein noch größerer Stresstest für das EU-System. So wie Russland schon in den US-Wahlen 2016 Einfluss ausgeübt hat, lässt sich vermuten, dass im Interesse des Krieges in der Ukraine auch in EU-Staaten genehme Parteien unterstützt werden. In Hinblick auf die EU-Wahlen 2024 und infolge von immer höheren Energiekosten und Inflation erscheint daher das Szenario immer realistischer, dass wir ein Erstarken radikaler Kräfte zu Ungunsten der demokratischen Mitte erleben werden.
Was heißt das für Public Affairs auf EU-Ebene:
Die politische Bühne kannte immer schon ein ständiges Kommen und Gehen. Und damit die Notwendigkeit, sich als Organisation aus Public Affairs-Sicht kontinuierlich mit sich ändernden Mehrheiten und Akteuren auseinander zu setzen.
Doch der aktuelle Grad an Instabilität ist unerreicht. Durch die Heterogenität im Gefüge des Europäischen Rates erscheint es leichter, Entscheidungen zu blockieren, doch wehe dem, der eine Mehrheit zu bauen versucht.
Als Gewinner dieser Entwicklung kann die Europäische Kommission genannt werden. Sie zieht neue Kompetenzen an sich (bzw. bekommt diese durch den Rat übertragen). So folgt die EU-Kommission der Vorlage vergemeinschafteter Impfstoff-Beschaffung, um dieses Modell auch auf weitere Sektoren und Produkte auszuweiten (z.B. Rüstungsgüter, Löschflugzeuge).
Für Organisationen wie Unternehmen wächst dadurch auch ihre Verantwortung, als „Corporate Citizen“ unsere demokratiepolitischen Werte und Modelle zu stärken.
Das viel zitierte EU-Labyrinth wird nicht kleiner, im Gegenteil: es bekommt einige neue (Irr-)Wege dazu. Doch „Stabilität“ und „klare Verhältnisse“ sind kein Gebot der Stunde. Das politische System auf EU-Ebene baut sich gerade neu.
EU-Analyse
Europas politische
Landschaft im Umbruch